Ausbau der 4. Reinigungsstufe Elektrotechnik
Steigende Anforderungen an die Elektrotechnik
- Was ist die vierte Reinigungsstufe?
- Warum ist das aktuell so relevant?
- Auswirkungen auf die Elektrotechnik
- Welche Erfahrungen können wir aus bisherigen Projekten dieser Art weitergeben?
1. Was ist die vierte Reinigungsstufe?
Bei der 4. Reinigungsstufe geht es um das Thema „Spurenstoffe im Wasser“, das seit Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnt. Unser von Menschen und Industrie erzeugtes Abwasser wird meistens über schon sehr moderne Kläranlagen gereinigt und dann wieder dem Wasserkreislauf hinzugefügt. Auch wenn moderne Kläranlagen bereits einen Anteil der Spurenstoffe aus dem Abwasser herausfiltern, verbleiben doch auch Mikroschadstoffe im gereinigten Abwasser.
Die verbleibenden Mikroschadstoffe gelangen so wieder in den Wasserkreislauf. Zu den Mikroschadstoffen gehören z.B. Medikamentenreste, Pestizide und Pflanzenschutzmittel, Silber- und Korrosionsschutzmittel, synthetische Duftstoffe in Körperpflegeprodukten und auch Mikroplastik. Aufgrund ihrer Stabilität verbleiben Mikroschadstoffe teilweise langfristig im Wasserkreislauf und können auch negative Einflüsse auf unser Trinkwasser erzeugen.
Ziel der 4. Reinigungsstufe ist es, möglichst viele dieser Mikroschadstoffe aus dem Abwasser herauszufiltern. Dazu werden verschiedenen Reinigungsverfahren ergänzend zur aktuellen Klärtechnik eingesetzt, z.B. Ozonierung, Membranfiltration oder Aktivkohlefiltration.
2. Warum ist das aktuell so relevant?
Das Thema Spurenstoffe bewegt die Wasserwirtschaft in ganz Deutschland. Es wurden bereits etliche unterschiedliche Förderprogramme seitens der Länder aufgelegt, um die Forschung und auch Realisierung von zusätzlichen Verfahren in einer 4. Reinigungsstufe auf den Kläranlagen voranzutreiben. Aktuell erhalten Kläranlagenbetreiber erhebliche Zuschüsse, wenn sie in die 4. Reinigungsstufe investieren.
Gerade jetzt ist es also für Kläranlagenbetreiber lukrativ, mit Fördermitteln zu bauen. Wer abwartet und später per Gesetzgebung zum Ausbau verpflichtet wird, erhält sehr wahrscheinlich keine Fördermittel. Daraus resultieren aktuell – und in den nächsten Jahren – eine Vielzahl von Modernisierungsprojekten auf den Kläranlagen in Deutschland mit dem Schwerpunkt der 4. Reinigungsstufe.
Der Schwerpunkt dieses Blog-Artikels ist nicht die Erläuterung der verschiedenen Klärtechniken. Dazu gibt es bereits diverse Veröffentlichungen, u.a. von der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall (DWA). Als Ingenieurbüro für Elektrotechnik beschäftigen wir uns mit den Auswirkungen auf die Elektro-, Mess-, Steuerung- und Regelungstechnik (EMSR-Technik) durch die Errichtung von Anlagen der 4. Reinigungsstufe auf Kläranlagen.
3. Auswirkungen auf die Elektrotechnik
Erhöhung des Leistungsbedarfs
Die zusätzlichen verfahrenstechnischen Anlagen der 4. Reinigungsstufe bedeuten auch einen zusätzlichen Leistungsbedarf, der über das öffentliche Mittelspannungsnetz des Energieversorgers (Ortsnetz) bereitgestellt werden muss. Je nach Größe der Kläranlagen kann der erhöhte Leistungsbedarf schnell über 1 MVA liegen. Aufgrund der häufig örtlichen Randlage von Kläranlagen kann es für den örtlichen Energieversorger zu Problemen führen, die zusätzliche Leistung aus dem Bestands-Ortsnetz zur Verfügung zu stellen.
Es sind dann – neben den reinen Bereitstellungsgebühren – auch Erschließungsmaßnahmen zur Verstärkung des Ortsnetzes erforderlich, die je nach Entfernung zum nächsten Umspannwerk in einen hohen 6-stelligen Bereich gehen können.
Netzersatzversorgung
Neben der elektrischen Versorgung aus dem Ortsnetz ist auch die Netzersatzversorgung der Kläranlage bei Ausfall des gerade betrachteten Ortsnetzes zu berücksichtigen. Je nach Gefährdungsbeurteilung sind auf den Kläranlagen Teile der verfahrenstechnischen Stufen auch bei einem Ausfall des Ortsnetzes in Betrieb zu halten.
Die erforderliche Netzersatzversorgung wird in der Regel durch Dieselaggregate oder auch inselfähige BHKW-Anlagen sichergestellt. Durch die zusätzlichen Verfahrensstufen erhöht sich der Bedarf an Netzersatzversorgung. Daraus folgen weitere kostenintensive Maßnahmen. Für eine zusätzliche Netzersatzanlage sind – je nach Kläranlagengröße – Investitionen von 200.000 bis 500.000 EUR erforderlich.
Elektrotechnische Infrastruktur
Für die Verteilung der elektrischen Energie (Ortsnetz oder Netzersatzversorgung) sind Kläranlagen mit einer umfangreichen elektrotechnischen Infrastruktur ausgerüstet. Dazu gehören u.a.:
- Mittelspannungsschaltanlage
- Transformatoranlagen
- Niederspannungsschaltanlagen
- Mittelspannungs- und Niederspannungskabelanlagen
- Trassierungen und Kabelleerrohrsystem
Mit Ausbau der 4. Reinigungsstufe erfolgt neben der Erhöhung des Leistungsbedarf auch eine örtliche Verschiebung des Leistungsschwerpunktes auf dem Kläranlagengelände. Durch den Ausbau der 4. Reinigungsstufe sind neben den zusätzlichen elektrotechnischen Anlagen auch Umbau- und Erweiterungsmaßnahmen in der elektrotechnischen Infrastruktur auf dem gesamten Kläranlagengelände erforderlich.
Erweiterung erdverlegte Kabeltrassen – ein Beispiel
Die Verteilung der elektrischen Energie erfolgt auf Kläranlagen in der Regel mit erdverlegten Kabeltrassen. In einer über Jahrzehnten gewachsenen Kläranlagen liegen auf dem gesamten Gelände erdverlegte Medien, also nicht nur Kabeltrassen. Die Häufung von alten und neuen erdverlegten Medienleitungen ist in manchen Bereichen der Kläranlagen gewaltig. Dort liegen mehrere Ebenen aus verschiedenen Richtungen kommende Medienleitung im Erdreich, deren weiterer Verlauf nirgendwo dokumentiert ist. Da ist häufig kein Durchkommen mit neuen Kabelanlagen möglich, ohne den Betrieb der Kläranlage zu gefährden.
Beispiel: Transformatorstation
Über die Transformatorstationen wird auf dem Kläranlagengelände die elektrische Energie niederspannungsseitig zur Verfügung gestellt. Wichtig ist hier: Je näher die Transformatorstationen an dem Leistungsschwerpunkt stehen, umso wirtschaftlicher ist der Betrieb. Durch die zusätzlichen Verfahrensstufen mit hohen Leistungsanforderungen verschieben sich die Leistungsschwerpunkte auf dem Kläranlagengelände. Um auf die Dauer einen wirtschaftlichen Betrieb sicherzustellen, ist eine Neukonzeptionierung der Transformatorstation auf dem gesamten Kläranlagengelände erforderlich.
Digitalisierung
Die Digitalisierung oder auch Wasser 4.0 haben in den letzten Jahren an Einfluss auf die Planung von abwassertechnischen Anlagen zugenommen. Die 4. Reinigungsstufe umfasst relativ neue Verfahren, die in unterschiedlichen Kombinationen angewandt werden und verfahrenstechnisch aufeinander aufbauen. Daraus resultieren Anforderungen an die Bereitstellung und zeitnahe Verarbeitung der Prozessdaten, um einen sicheren und wirtschaftlichen Betrieb zu gewährleisten.
Beispiel aus der Automatisierungstechnik
Die verfahrenstechnischen Anlagen der 4. Reinigungsstufe werden mit einem hohen Automatisierungsgrad ausgerüstet. Ziel sind automatisierte Verfahren aufzubauen, die einen optimalen Betrieb auch autark sicherstellen können. Dementsprechend ist eine Automatisierungstechnik in den Verfahrensstufen entsprechend dem aktuellen Stand der Technik vorzusehen. Um die Reinigungsfunktionen jederzeit sicherzustellen werden komplexe und hochverfügbare Automatisierungssystem aufgebaut.
Um eine homogene Automatisierungstechnik auf der gesamten Kläranlage zu gewährleisten, ist eine Modernisierung der „älteren“ Bestandssysteme im Bereich der Automatisierung häufig ebenfalls empfehlenswert.
Prozessleittechnik Beispiel
Die aktuellen und umfangreichen Informationen aus den Automatisierungssystemen der Reinigungsstufe sind zur Optimierung der neuen Verfahrensstufen und für einen wirtschaftlichen Betrieb eine grundlegende Voraussetzung. Die Aufbereitung erfolgt in der Regel mit Prozessleitsysteme auf der Kläranlage und/oder verbandsweiten Informationsmanagementsystemen. Mit der Stufe ist eine Modernisierung bzw. Erweiterung der vorhandenen Prozessleitsystem erforderlich.
Aus der Erweiterungsmaßnahme resultieren weitere umfangreiche Maßnahmen für die Automatisierungs- und Prozessleittechnik der gesamten Kläranlage.
Wirtschaftliche Auswirkung auf die Elektrotechnik
Die im vorherigen Abschnitten beschriebenen Auswirkungen auf die Elektrotechnik haben erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen für die Gesamtbetrachtung der Maßnahme
Dazu gehören:
- Erhöhung Netzanschlusskosten beim örtlichen Energieversorger
- Erhöhung der Investitionskosten für die Elektrotechnische Ausrüstung durch Maßnahmen auf der gesamten Kläranlage
- Erhöhung der laufenden Betriebskosten
Die Investitions– und Betriebskosten für die Integration der 4. Reinigungsstufe in die vorhandene elektrotechnische Ausrüstung können ggfs. die Investitions- und Betriebskosten für die direkt zugeordnete elektrotechnische Ausrüstung übersteigen.
4. Welche Erfahrungen können wir aus bisherigen Projekten dieser Art weitergeben?
Die Erweiterung einer Kläranlage um die 4. Reinigungsstufe ist ein erheblicher Eingriff in die elektrotechnische Ausrüstung. Neben der elektrotechnischen Ausrüstung für die Reinigungsstufe sind die erforderlichen Integrationsmaßnahmen in die übergeordneten Technikzentralen und Infrastrukturen zu berücksichtigen. Die Bewertung der erforderlichen Erweiterungsmaßnahmen für die
- Energieversorgung aufgrund des zusätzlichen Leistungsbedarfes,
- Netzersatzversorgung aufgrund des zusätzlichen Leistungsbedarfes,
- Elektrotechnische Infrastruktur aufgrund der Verschiebung der Lastschwerpunkte,
- Automatisierungstechnik aufgrund der komplexen Verfahrenstechnik,
- Prozessleittechnik aufgrund des zusätzlichen Informationsmanagement
sind im Rahmen der Bedarfsplanung bzw. ergänzend mit der Vorplanung umfassend durchzuführen. Hieraus können sich umfassende Umbaumaßnahmen ergeben, die einen wesentlichen Einfluss auf den technischen und wirtschaftlichen Erfolg der Erweiterungsmaßnahme haben. Insbesondere bei geförderten Maßnahmen ist es wichtig, im Vorfeld die direkt mit der 4. Reinigungsstufe verbundenen Maßnahmen ganzheitlich zu betrachten, um die entsprechenden Förderung erhalten zu können.